Blut und Dunkelheit
Die Nacht war kalt und stürmisch. Regen prasselte gegen die gläsernen Wände des großen Wintergartens und eine Sinnflut aus Wasser strömte vom Dach hinab. Der Anblick erweckte in jedem Besucher, der unter den tropischen Pflanzen hindurchging das Gefühl, unter Wasser zu sein. Das schwache, unwirkliche Licht der wenigen Lampen trug nur noch mehr zu diesem Gefühl bei, denn es erinnerte stark an die Leuchten an Bord eines Schiffes, oder eben eines Unterseebootes.
Der ganze Raum erschien unwirklich, düstere Silhouetten von tropischen Palmen und Farnengewächsen, vor einem gläsernen Hintergrund, gegen den der Sturm mit aller Macht donnerte. Sah man aus dem Fenster, konnte man kaum einen Blick auf die gewöhnlichen, europäischen Bäume erhaschen, die wenige Meter davor standen, und den Beginn eines Wäldchens markierten, denn der Regen fiel so dicht.
Wind peitschte die Bäume draußen hin und her, während die Farne und Palmen nur vom dem schwachen Hauch der Klimaanlage bewegt wurden. Der Sturmwind rüttelte auch am Gebäude als wollte er den Eindruck erwecken, ein gewaltiges, finsteres Ungetüm aus der Nacht versuchte sich Einlass zu verschaffen.
Seraphos starrte schweigend zwischen den Palmen hindurch auf das Fenster, in Gedanken verloren. Sein Blick folgte den peitschenden Bewegungen des Sturmes, die man mehr erahnen denn wahrnehmen konnte. Er wirkte nachdenklich, melancholisch.
Der junge Mann seufzte leise, fuhr sich mit einer Hand durch das kurz geschnittene, blonde Haar. Nächte wie diese waren es, die ihn an sein eigenes Leben denken ließen. An sein Leben vor seiner Wiedergeburt. Wie wäre es wohl, noch einmal zu atmen, fragte der Junge sich, nicht zum ersten Mal diese Nacht. Wie wäre es, noch einmal die Welt mit den schwachen Sinnen der Menschen wahrzunehmen.
Manchmal sehnte er sich nach diesem Leben, das ihm gestohlen wurde, und stets erschreckte ihn der Gedanke. Es konnte der Vorbote einer seltsamen Krankheit sein, die manche seiner Art befiel, wenn sie lange genug lebten.
Das Leiden wurde ?Nebelblick? genannt, denn viele, die davon befallen wurden, schienen sich selbst zu verlieren, ihre Umwelt nur noch durch einen Schleier nebliger Melancholie wahrnehmend. Sie gingen unweigerlich in einigen kurzen Jahrzehnten zu Grunde. Vielleicht würde auch ihm das passieren.
Leicht ärgerlich schüttelte Seraphos den Kopf. Er hatte nicht vor, es so weit kommen zu lassen. Es gab noch zu viel zu entdecken auf dieser Welt, zu viel auszuprobieren.
Ein leises Klopfen an der Tür riss den jungen Mann aus seinen Gedanken. Er lächelte erfreut, während er raschen Schrittes den großen Wintergarten durchquerte, und einen stählernen Riegel zur Seite zog. Martina! Endlich war sie gekommen!
Die Tür schwang auf und eine kleine, zierliche Gestalt trat geschwind ein. Sie war in ein langes, violettes Regencape gekleidet und rote Locken fielen unter ihrer Kapuze hervor. Die ganze Gestalt war tropfnass.
Seraphos trat einen Schritt zurück, als die Gestalt das Cape über den Kopf zog und zu Boden fallen ließ. Einen Augenblick lang starrte er die Frau nur an.
Sie war hinreißend. Lange, elegante Beine, eine schmale Taille, kleine, aber wohlgeformte Brüste, die durch den engen Pullover nur noch betont wurden.
Ihr Gesicht war anmutig, von einer Flut roten Haares umrahmt und mit hohen Wangenknochen, die ihr etwas unglaublich edles verliehen.
Seraphos fühlte sich durch den Anblick zurückversetzt in eine andere Zeit, erinnert an eine andere Frau, die dieser hier so ähnlich gewesen war. Er hatte die Baronin in Paris kennen gelernt, kurz vor der Revolution. Trotz der geladenen Stimmung hatten sie einige wundervolle Wochen miteinander verbracht.
Nun aber war es Martina, die ihn bezauberte. Seraphos trat vor, nahm sie in die Arme und streichelte die weiche Haut ihres Halses. Ihre Lippen trafen sich in einem innigen Kuss. Die junge Frau seufzte.
?Ich habe dich vermisst, Geliebter.?
Seraphos lächelte nur, nahm sie bei der Hand und führte sie in den Garten hinüber.
Die beiden blieben am Fenster stehen, berührten sich sacht mehrere Male.
Seraphos strich leicht über Martinas herrliches, rotes Haar, doch seine Gedanken wanderten davon.
Eigentlich hatte er vorgehabt, noch eine unterhaltsame Nacht mit ihr zu verbringen, doch nun, da sie ihm so nahe war, konnte er sich kaum noch zurückhalten.
Er spürte den Lockruf des Blutes, so nahe vor ihm. Er war stark diese Nacht. Der Ruf dröhnte in seinem Kopf. Sanft berührte er die liebliche Ader, die sich über ihren Hals zog. Er beugte sich vor, sie zu küssen...
Martinas Lächeln verwandelte sich in einen Schrei, als sie spitze Zähne spürte, die ihre Haut aufrissen. Sie versuchte, sich von Seraphos zu befreien, doch sie war so schwach. Sie zuckte, trat, kratzte, aber es war vergeblich. Ihre Gegenwehr erlahmte schnell und sie begann, lustvoll zu seufzen, während Wellen von Schmerz und Erregung gleichzeitig durch ihren Körper zogen.
Schon bald wurde sie schlaff in seinen Armen und er ließ sie zu Boden sinken.
Dann legte er sich erneut auf sie, trank mehr und mehr ihres herrlichen, gehaltvollen, roten Blutes. So herrlich rot wie ihr Haar, so gehaltvoll wie ihr Charakter. Ein göttliches Mal für jeden Vampir.
Minutenlang lag der Raum in Stille eingehüllt da, nur gelegentlich ertönten schmatzende Laute von der Stelle, wo Seraphos auf Martinas Körper lag.
Dann, nach schier unendlich langer Zeit, erhob der Vampir sich. Er fühlte sich gestärkt, wie jedes Mal, nach dem trinken. Nachdenklich beobachtete er Martinas toten Körper, ihre nun gebrochenen Augen, in denen man noch immer die Rückstände des Ekstase erkennen konnte, die jeden Sterblichen übermannte, wenn von ihm getrunken wurde. Das Blut, das noch immer aus den beiden Löchern an ihrem Hals tropfte, schien neben ihrem roten Haar nicht fehl am Platze.
Was war an dieser Farbe, überlegte der Vampir, das ihn so anzog. Die Farbe des Blutes? War es das? Lag es daran, dass er nur von rothaarigen Frauen trinken konnte? Oder gab es einen anderen Grund dafür?
Schon als Mensch hatten ihm die Frauen am meisten gefallen, deren rote Haare ihr feuriges Temperament widerspiegelten. Vielleicht hatte dieses Gefühl sich hinübergerettet in sein neues Leben. Vielleicht lag es daran.