So hier kommt Leseprobe Nummer 2
Eins
Die Nacht ließ sich schlecht an.
Als ich aufwachte, dunkelte es bereits. Vom Bett aus beobachtete
ich, wie sich die letzten Lichtstrahlen durch die Ritzen der
Jalousien verkrochen, und dachte nach. Die fünfte Nacht auf
Jagd ? und null Erfolg. Kaum anzunehmen, dass ich heute
mehr Glück haben würde.
Die Wohnung war kalt, die Heizung höchstens lauwarm. Am
Winter mag ich überhaupt nur eins: dass es früh dunkel wird
und nur wenige Leute auf den Straßen sind. Ansonsten ? ansonsten
hätte ich schon längst alles hingeschmissen, hätte
Moskau verlassen und wäre nach Jalta oder Sotschi gefahren.
Irgendwohin ans Schwarze Meer, bloß nicht auf eine dieser fernen
Inseln in fremden warmen Ozeanen ? ich mag es nun mal,
wenn man um mich herum Russisch spricht.
Das sind dumme Träume, na klar.
Ist nämlich noch ein bisschen früh für mich, um mich
irgendwo in warmen Gefilden zur Ruhe zu setzen.
Das hab ich mir noch nicht verdient.
Das Telefon schien förmlich darauf gewartet zu haben, dass
ich wach werde, und läutete jetzt energisch, geradezu widerlich.
Ich griff nach dem Hörer und presste ihn ans Ohr, schweigend,
ohne ein Wort zu sagen.
?Anton, melde dich!?
Ich schwieg. Larissas Stimme klang sachlich, konzentriert,
aber auch müde. Bestimmt hatte sie den ganzen Tag nicht geschlafen.
?Anton, soll ich dir den Chef geben??
?Nicht nötig?, brummte ich.
?He, he. Bist du überhaupt schon wach??
?Hm.?
?Jeden Tag das Gleiche mit dir.?
?Gibt?s was Neues??
?Nein, nichts.?
?Hast du was zum Frühstück da??
?Werd schon was finden.?
?Gut. Viel Erfolg.?
Der Wunsch kam ohne rechte Überzeugung, ohne Anteilnahme.
Larissa glaubte nicht an mich. Der Chef vermutlich
auch nicht.
?Vielen Dank auch?, sagte ich zu den rasch aufeinander folgenden
Pieptönen des Telefons. Ich stand auf und begab mich
auf eine Exkursion in Klo und Bad. Ich wollte mir schon Zahnpasta
auf die Bürste drücken, begriff dann aber, dass ich den
zweiten Schritt vor dem ersten machte, und legte die Bürste
auf den Rand des Waschbeckens.
Obwohl es in der Küche stockdunkel war, knipste ich das
Licht natürlich nicht an. Ich öffnete den Kühlschrank, in dem
das herausgeschraubte Lämpchen zwischen den Lebensmitteln
vor sich hin fror. Mein Blick fiel auf eine Kasserolle, in der ein
Sieb hing. Darin lag ein Stück halb aufgetautes Fleisch. Ich
nahm das Sieb heraus, setzte den Topf an die Lippen und trank
einen Schluck.
Falls irgendjemand glaubt, Schweineblut schmecke lecker,
irrt er gewaltig.
Nachdem ich die Kasserolle mit dem restlichen, bereits aus
dem Fleisch getropften Blut zurückgestellt hatte, ging ich wieder
ins Bad. Die trübe blaue Lampe kam kaum gegen die Dunkelheit
an. Ausgiebig und verbissen putzte ich mir die Zähne,
hielt es aber schließlich doch nicht mehr aus und wanderte noch einmal in die Küche, um eine Flasche aus dem Froster zu
nehmen und daraus einen Schluck eisgekühlten Wodkas zu
trinken. Danach strömte nicht einfach Wärme durch meinen
Bauch, sondern glühende Hitze. Was für ein wunderbares Bouquet
aus Empfindungen: die Kälte an den Zähnen und die Glut
im Bauch.
?Hol dich doch ??, setzte ich in Gedanken an meinen Chef
an, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen. Bei ihm musste
man damit rechnen, dass er sogar halb ausgesprochene Flüche
spürte. Ich tigerte eine Weile durchs Zimmer und fing an,
meine überall verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln. Die
Hose lag unter dem Bett, die Socken auf dem Fensterbrett, und
das Hemd hing aus irgendeinem Grund über der Maske des
Choyong.
Missbilligend sah der alte koreanische Herrscher mich an.
?Pass halt besser auf?, brummte ich. In dem Moment schrillte
abermals das Telefon. Ich sprang im Zimmer umher, bis ich
es endlich fand.
?Anton, wolltest du mir etwas sagen??, erkundigte sich mein
unsichtbarer Gesprächspartner.
?Nein. Nichts?, sagte ich verdrossen.
?Na, na. Wo bleibt das Ich schätze mich glücklich, Euch zu
Diensten zu sein, Euer Wohlgeboren??
?Ich bin nicht glücklich. Tut mir Leid ? Euer Wohlgeboren.?
Der Chef schwieg einen Moment.
?Anton, ich bitte dich trotzdem, die Entwicklung der Lage
mit etwas mehr Ernst zu betrachten. Abgemacht? Morgen früh
erwarte ich deinen Bericht, so oder so. Und ? viel Glück.?
Verlegen wurde ich deswegen nicht. Aber immerhin regte ich
mich etwas ab. Nachdem ich mein Handy in die Jackentasche
gesteckt hatte, öffnete ich den Schrank in der Diele. Einen Augenblick
lang überlegte ich, ob ich meine Montur irgendwie
aufpeppen sollte. Ich hatte ein paar neue Klamotten, die mir
Freunde in der letzten Woche geschenkt hatten. Am Ende be-
ließ ich es jedoch bei der gewöhnlichen Kluft, die recht vielseitig
und ziemlich kompakt war.
Fehlte noch der MD-Player. Die Musik bräuchte ich gar nicht,
aber Langeweile ist ein unerbittlicher Feind.
An der Wohnungstür spähte ich lange durch den Spion ins
Treppenhaus hinaus. Niemand da.
Eine weitere Nacht begann.
Sechs Stunden lang fuhr ich mit der Metro, wechselte ohne
irgendein Prinzip die Linien, döste immer mal wieder ein, damit
sich mein Bewusstsein erholen und meine Sinne frei werden
konnten. Alles war ruhig. Nun ja, das eine oder andere Interessante
sah ich schon, aber alle diese Fälle hatten weiter
nichts Besonderes an sich, sie waren etwas für Neulinge. Erst
gegen elf, als die Metro sich merklich leerte, änderte sich die
Situation.
Mit geschlossenen Augen saß ich da und hörte schon zum
dritten Mal an diesem Abend die fünfte Symphonie von Manfredini.
Die Mini-Disc im Player war absolut verrückt, meine
höchstpersönliche Zusammenstellung, bei der sich das italienische
Mittelalter und Bach mit den Rockgruppen Alissa und
Piknik oder Ritchie Blackmore ablösten.
Es war immer spannend, welche Melodie mit welchem Ereignis
zusammentraf. Heute untermalte Manfredini mein Glück.
Etwas presste mich zusammen, ein Krampf, der von den Zehen
bis zu den Haarwurzeln alles erfasste. Ich zischte sogar unwillkürlich
irgendwas, als ich die Augen öffnete und den Blick
durch den Waggon schweifen ließ.
Sofort entdeckte ich die Frau.
Eine junge und sehr sympathische Frau. In einem eleganten
Pelz, mit einer Handtasche und einem Buch in Händen.
Und mit einem derart gewaltigen schwarzen Wirbelwind
über dem Kopf, wie ich ihn seit bestimmt drei Jahren nicht
mehr gesehen hatte!
Vermutlich guckte ich wie ein Wahnsinniger drein. Was die
Frau spürte, denn sie sah zu mir herüber, wandte den Blick aber
gleich wieder ab.
Du solltest lieber nach oben schauen!
Nein, sie war natürlich nicht imstande, den Strudel zu sehen.
Bestenfalls konnte sie etwas spüren, eine leichte Unruhe. Und
nur ganz vage, nur aus den Augenwinkeln heraus, vermochte
sie ein Flirren über ihrem Kopf wahrzunehmen ? als schwirrten
Fliegen über ihr, als flimmerte an einem heißen Tag die Luft
über dem Asphalt ?
Doch sehen konnte sie nichts. Nichts. Sie würde noch einen
oder zwei Tage leben, bevor sie auf Glatteis ausrutschte, und
zwar so, dass sie eine tödliche Kopfverletzung davontrug. Oder
sie würde unter ein Auto geraten. Oder im Hauseingang ins
Messer eines Verbrechers laufen ? der nicht die geringste Ahnung
hatte, warum er diese Frau umbrachte. Und alle Welt würde
sagen: ?Sie war so jung, das ganze Leben lag noch vor ihr,
alle haben sie gern gehabt ??
Ja. Ganz bestimmt. Das glaube ich, zu gut und zu freundlich
ist ihr Gesicht. Müdigkeit zeichnet sich in ihm ab, aber
keine Verbitterung. Neben einer solchen Frau fühlst du dich
nicht so mies, wie du eigentlich bist. Du versuchst, besser zu
sein, auch wenn es dir schwer fällt. Mit solchen Frauen möchte
man gern befreundet sein, ein wenig flirten, Geheimnisse teilen.
In solche Frauen verliebt man sich selten, doch lieben tun
alle sie.
Bis auf den einen, der den Dunklen Magier bezahlt hat.
Ein schwarzer Strudel ist im Grunde eine völlig alltägliche
Erscheinung. Als ich mich umsah, konnte ich noch weitere fünf
oder sechs entdecken, die über den Köpfen der Fahrgäste hingen.
Doch sie alle wirkten verwischt, trübe und drehten sich
kaum. Resultate eines absolut durchschnittlichen, unprofessionellen
Fluchs. Jemand wirft einem anderen ein ?Verrecken
sollst du, Dreckskerl!? hinterher. Ein anderer drückt es schlichter, weniger hart aus: ?Hol dich doch der Kuckuck!? Und
von der Dunklen Seite rankt sich ein kleiner Wirbelsturm herüber,
der das Glück aus einem herauspresst, der die Kräfte
aussaugt.