Kennis Meldraiter – der Auftrag
Als Kennis am frühen Morgen den Empfangssaal des Ministerialhofs betrat, sah er Ruedperth de Liboche in voller Rüstung zusammen mit dem Wachhabenden über einen Tisch gebeugt stehen.
„Alles verstanden?“, wehte Ruedperths Stimme heran. „Gut … Befehl ausführen, Mil!“
Milian salutierte und trat ab. Mit einem vielsagenden Blitzen in seinen Augen ging er an Kennis vorbei – mit einem Blitzen, das Kennis sagte, dass der Wahnsinn gerade erst begonnen hatte.
„Ken.“ Ruedperth grinste über das ganze Gesicht und ergriff herzlich seine Hand. „Gut, dich zu sehen. Wie geht es dir?“
„Mein Sprunggelenk macht mir seit ein paar Tagen wieder zu schaffen. Und ich sehe nicht mehr so gut wie früher. Aber ansonsten … Ich laufe jeden Tag eine Meile. Am Sigmarstag sind es wie immer drei.“
„Es hat sich nichts geändert, nicht wahr?“ Rued grinste und drückte ihm die Schulter. „Du ahnst wahrscheinlich, warum ich dich sehen wollte, oder?“
Ken sog die Luft ein und blies sie hörbar wieder aus. „Ja, leider …“
„Ich zeig dir den Albtraum auf der Karte. Das mit den Sümpfen war todsicher erst der Anfang. Milian überprüft das gerade mit seinen Männern.“
Kennis folgte ihm zum Tisch. Wie in den alten Tagen. Eine ausgebreitete Gefechtskarte und auf ihr bunte Fähnchen und Wimpel, die die Landschaft zierten –und sie – die Hundertschaft – waren wie immer mittendrin.
„Die Zwerge steigen in kleinen Trupps von den Bergen in die Täler herab. Noch wissen wir nicht, was sie hier wollen. Es sind mindestens drei verschiedene Clans.“
Er sah überlegend in Richtung Süden auf die Felder hinaus.
„Östlich der Schmiede haben wir Gestern Abend das Klirren von Schwertern gehört. unsere hochelfischen Freunde üben und rüsten sich zum Kampf – und das, obwohl sie gelobt hatten, in ihr heiliges Land zurückkehren zu wollen …
Und dann sind da noch die verfluchten Ratten, die zu Hunderten aus ihren Sumpf- und Erdlöchern strömen.“ Er ließ seinen Faust auf den Tisch knallen.
„Und zuletzt …“ Rued deutete auf die nördlichen Wälder. „Was die elfischen Brüder im Wald vorhaben, wissen wir nicht. Seit Wochen hat sie keiner unserer Jäger mehr zu Gesicht bekommen.“ Er sah Kennis in die Augen. „Und wenn ich eins weiß, dann … dass, wenn sie nicht gesehen werden wollen, sie irgendetwas vorhaben.“
Kennis nickte. „Ich kümmere mich darum, Rued.“
„Wir müssen wissen, auf welcher Seite sie stehen werden, falls es zum Kampf kommt.“
Kennis wog den Kopf. „Auf ihrer eigenen. Sie werden den Wald gegen jeden Eindringling verteidigen.
Rued fletschte die Zähne. „Zehn Jahre – zehn Jahre ist es ruhig geblieben. Ich habe keine Ahnung, was auf uns zukommt.“
Die Vorkommnisse der letzten Wochen ließen jedenfalls nichts Gutes erahnen.
„Ich möchte, dass du während meiner Abwesenheit die alte Truppe wieder zusammenstellst. Wir machen mobil – bis zum letzten Mann, aber keiner von den anderen soll etwas mitbekommen.“ Er machte eine vielsagende Geste in Richtung Kartentisch.
„Du gehst fort?“
„Nur kurz, hoffe ich. Ich will uns Verstärkung verschaffen, falls es notwendig werden sollte.“
„Aber das Imperium …“
„Das Imperium schert sich einen Scheiß um eine ihrer Ministerialschaften in den Grenzländern. So lange von hier aus keine Armee über den Nachtfeuerpass in Stirland oder Nuln einfällt, rühren die keinen Finger – nicht einmal einen Beobachter werden sie uns schicken.“
Kennis presste die Lippen zusammen.
„Nein, wir brauchen unsere alten Freunde.“
„Leben die überhaupt noch?“ Kennis wagte es zu bezweifeln.
„Eben das versuche ich, herauszufinden. Und mein bester Leutnant hält hier die Stellung. Ich will, dass du jeden waffenfähigen Mann hier zusammenziehst, bis wir wissen, womit wir es zu tun haben.“ Er deutete auf eine bestimmte Stelle am Kartentisch.
„Dein Vertrauen ehrt mich, aber …“ Kennis knirschte mit den Zähnen. „Die meisten haben seit zehn Jahren keine Waffe mehr in der Hand gehalten – ich eingeschlossen. Wir sind Farmer, Rued … keine Soldaten.“
„Ihr seid Veteranen – und Veteranen liegt das Kämpfen im Blut. Das verlernt man niemals. Schon gar nicht, wenn man weiß, wofür man kämpft.“
Er strich sich über das Gesicht und schattete seine Augen vor der Morgensonne ab.
„Ich liebe das Lywoch-Tal. Ich liebe die Menschen hier. Deswegen habe ich euch auch alle hierher geführt. Weil wir hier wie freie Männer leben können – aber diese Freiheit müssen wir uns jeden Tag aufs Neue erkämpfen. Sie ist nicht selbstverständlich.“
***
Kaum zuhause zog Kennis eine alte unscheinbare Holzkiste unter dem Bett hervor. Kennis Meldraiter stand in reikländischen Lettern darauf. Darin war alles von damals aufbewahrt – alles aus einer Zeit, die er gehofft hatte, vergessen zu können. Er öffnete sie, als wäre sie die Büchse der Unheilsgöttin.
„Ich dachte, du wolltest das Ding nie mehr anrühren.“
Aela.
Seine Frau.
Sie stand in der Tür zum Schlafzimmer und warf einen verächtlichen Blick auf das Schwert, das er all die Jahre darin aufbewahrt hatte.
„Zeiten ändern sich.“ Er spähte in die Stube, wo ihre gemeinsamen Kinder am Tisch saßen und ihren Beschäftigungen nachgingen. Iana, Rina und der kleine Eon. Seine drei Kinder – sein ganzer Stolz. Sie waren das Beste, was er jemals in diesem Leben zustande gebracht hatte.
„Gibt es keinen anderen, Ken?“
„Rued will, dass ich es mache – und einem anderen vertraut er nicht. Genauso wenig wie ich.“ Er zog das Schwert aus der Scheide. Es war eine gute Klinge. Die beste, die ein einfacher Soldat aus den imperialen Ländern sein Eigen nennen konnte.
„Rued macht sich Sorgen, Aela. Er fragt sich, auf welcher Seite die Asrai stehen werden.“
Seine Frau sah ihm tief in die Augen.
„Ich verstehe.“
***
Kennis schnürte seinen alten Armeerucksack und verstaute sein Schwert.
„Bewach das Haus“, trug er Iana mit einem Kuss auf die Stirn auf. „Und beschütz deine Mutter und deine Geschwister.“
Iana nickte entschlossen.
Aela küsste ihn zum Abschied bei der Haustür.
„Ich sehe zu, dass ich am Abend zurück bin“, versprach er und machte sich auf den Weg. Ohne zu wissen, dass er sein Versprechen nicht würde halten können.
Er hatte einen langen Marsch vor sich. Es blieb außer ihm kein Mann, während die Wache des Tages unten bei den Sümpfen war, um herauszufinden, was dort vor sich ging.
Der Mann, den er als Erstes aufsuchte, wohnte keinen Steinwurf entfernt.
Killan, der Feldwebel der Musketiere, sah ihn schon von Weitem kommen.
„Oje – ich will wieder heim ins Reikland“ – das war das erste, was Killan murmelte. Doch seine Augen sagten etwas Anderes. Er war einem Kampf nie abgeneigt – wenn schon vorher feststand, dass sie gewinnen würden.
Killans Schützen verwahrten ihre Flinten bei sich Zuhause – gegen Wölfe und anderes Getier, das nachts aus dieser unsäglichen Festung strömte wie unheilige Pestilenz. Und die Armbruster hatten sich etwas flussaufwärts angesiedelt.
Bis sie wieder wie eine Armee zu kämpfen verstanden, mussten sie den Gegner auf Abstand halten können.
„Trommel deine Männer zusammen, Kil. Zeig mal, ob ihr noch immer die besten Musketiere des Reiklandes seid.“
„Wieso habe ich das Gefühl, dass es uns schlimmer ergehen wird als den armen Teufeln der Nachtwache?“
„Weil du ein cleverer Kerl bist, Kil. Sag Phael und Seb Bescheid – was ich brauche sind vor allem Schützen. Vielleicht kommt es dann gar nicht zum Kampf.“
„Bis wann?“
„Sonnenuntergang. Aber vorerst ohne Uniform. Und es reicht, wenn heute nur die alte Einheit da ist. Niemand soll mitbekommen, was die Lywocher Miliz vorhat.“
Killan nickte. „Aber es wird sich nicht ewig geheim halten lassen.“
***
In Hof, nahe der Schmiede, wohnte ein alter Oberstabsfeldwebel, der schon vor der Zeit in Ruedperths Armee eine Legende gewesen war. Kennis hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Und als er ihm die Hand schüttelte, wusste er auch warum.
„Ich kann nicht mehr kämpfen, Kennis. Meine Knie sind so hin, dass ich nicht mal mehr aufstehen kann. Aber mein Enkel wird mich vertreten.“
Das war mehr, als Kennis verlangen konnte.
„Und wo finde ich ihn?“
Der alte Oberstabsfeldwebel grinste. „Ich schätze mal … im Heustadel.“
Kennis überquerte den Hof, wo die Hühner ihm gackernd über den Weg liefen.
Tin war ein guter Junge, der Sohn eines Veteranen, der vor ein paar Jahren in einem Raufhandel in der Dorfkneipe sein Leben ließ. Möge er in Frieden ruhen.
„Tin? Ti-in!!“
„Mensch, was gibt’s denn?“
Zwei junge Gesichter tauchten im Heu auf. Das von Tin und das der … der Dienstmagd? Sie war ein Mädchen in seinem Alter – und damit noch viel zu jung für das, was sie da im Heu anstellten. Ihr Kleidchen war weit … weit über die Schultern heruntergezogen. Sie versteckte sich zwar gleich wieder im Heu, aber eines ihrer schneeweißen Argumente lugte zwischen den Halmen hervor.
Kennis verfluchte sich selbst, es nicht besser gewusst zu haben.
„Krieg“, antwortete er. „Aber … aber lasst euch nicht stören. Er läuft uns schon nicht davon.“
Tin lachte auf. „Also machen wir jetzt ernst? Wurde auch langsam Zeit. Obwohl man nie genug Zeit haben wird, nicht wahr?“
„Ja, wenn dafür keine Zeit ist, warum dann kämpfen?!“, gab Kennis ihm recht. „Ich hoffe, dein Vater und dein Großvater haben dir gezeigt, wie man mit einem Schwert aus Stahl umgeht.“
„Das haben sie“, versicherte er. „Ich bin der beste …“
„Ich hoffe besser, als mit dem Schwert in deiner Hose.“
Die Kleine lachte.
„Bis jetzt hat sich noch keine beschwert“, entrüstete Tin sich.
„Gut dann sehe ich dich bei Sonnenuntergang am Antreteplatz. Und vergiss dein Schwert nicht.“
„Welches?“
„Beide.“ Kennis grinste und verließ den Heustadel. Er hörte noch, wie Tin dem Mädchen auftrug, den Hof im Augen zu behalten und seinem Großvater regelmäßig die Medizin zu geben.
***
Im Laufe des Tages hatte Kennis mit einem Dutzend Männer gesprochen und sie über die Lage informiert.
Wenn es um den Mann ging, den er als Letztes aufsuchen wollte – da hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung, wo er ihn antreffen würde. In der Schenke mit dem zweifelhaftesten Ruf von ganz Lywoch.
Und er sollte recht behalten. Er lag unter dem Tisch in einer Ecke des noch menschenleeren Schankraums. Um diese Uhrzeit war noch niemand da, weder der Wirt noch eines der Mädchen. Und erst ein Eimer Wasser konnte ihn wieder zu Besinnung bringen.
„Was zum Teufel?!“
„Hallo Nik.“
„Zum Teufel, Ken … Bist du wahnsinnig?“ Er wischte sich die Wassertropfen aus dem Gesicht. „Was willst du? Ich habe erst in drei Wochen wieder Dienst.“
„Das hat sich soeben geändert.“
„Was soll das heißen??“ Nik beäugte ihn höchst misstrauisch.
„Hast du in deinem Suff nicht mitbekommen, was hier los ist?“
Nik nickte. „Dass sie mich in dieser dunklen Gasse aufgemischt haben?!“ Er spuckte auf den Boden.
„Und das war nur der Anfang.“
„Mensch …“ Nik strich sich über sein verkatertes Gesicht. „Ich bin ein Säufer … Ich … Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich überleb doch keine fünf Minuten mehr da draußen.“
„Jetzt hör mal gut zu. Du warst der beste Ausbildungsfeldwebel unserer Einheit. Zudem hast du einen Eid geschworen. Und ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass du seit zehn Jahren keine einzige Münze an Steuern bezahlen musstest.“
„Wenn du es so sehen willst …“ In seinen Augen blitzte es auf.
„Wir habe gar keine andere Wahl, als es so zu sehen. Zehn Jahre hatten wir Frieden. Wir konnten uns etwas aufbauen. Jetzt liegt es an uns, es zu behalten.“
Nik grinste schwach. Sah er etwa so aus, als hätte er sich etwas aufgebaut? Alles was er besaß, hatte er in die Mädchen dieser Schenke investiert.
„Ihr seid alle komplett irre … Aber gut, einverstanden.“ Er massierte sich die Schläfen. „Aber sag Rued, ich will endlich einen richtig guten Laden im Ort haben. Mit tileanischen, estalischen und bretonischen Mädchen. Diese dürren Weiber aus den Düsterlanden – diese Gespenster – verstehen es nicht, einem Mann das Bett zu wärmen.“
„Ich weiß nicht, ob Rued darauf einen ein Einfluss hat.“
„Dann soll er sich den nötigen Einfluss darauf verschaffen, verdammt! Er ist Ruedperth de Liboche, verflucht noch eins. Und ich will endlich mal wieder Mädchen aus dem Reikland – Mädchen, die verstehen, was man zu ihnen sagt.“
„In Ordnung, Stabsfeldwebel – und jetzt sieh verdammt noch mal zu, dass du nüchtern wirst und deinen Körper wieder in Schwung bringst. Es fällt uns allen nicht leicht, das Schwert wieder in die Hand zu nehmen.“
Und Oberfeldwebel Nikolaus Garter sollte der bestgekleidete Soldat am Antreteplatz sein. Wie aus dem Ei gepellt. Dass er sechs Stunden zuvor noch besoffen unter dem Tisch gelegen hatte, sah man ihm nicht an ...